Als
ich begann dieses Buch zu schreiben, lagen Jahre hinter mir, in
denen ich mich intensiv mit dem fotografischen Daumenkino
auseinandersetzte. Zunächst begann ich, meine Freunde zu
porträtieren. Doch schon bald entwickelte ich darüber hinaus
–
ohne mir anfangs dessen bewusst zu sein - eine Art ‚Theorie des
Daumenkinographierens‘. Bereits bei meinen ersten Daumenkinos, die ich
machte, hatte ich das Gefühl, dass es sowohl bei der Aufnahme als
auch beim Betrachten der Daumenkinos in einem besonders hohen
Maße zu Wechselwirkungen mit dem Medium kommt. Hinter der
kindlichen Freude, Begeisterung und Neugierde beim Betrachten der
Daumenkinos, sowie dem Maß, mit dem sich die Menschen in den
Daumenkinos offensichtlich selbst begegneten, vermutete ich ein
tieferliegendes Prinzip. Diese Vermutung war es, die in mir eine
bleibende Faszination für das fotografische Daumenkino
auslöste. "Der Mantel der Eigenzeit" ist das Ergebnis meiner
Beschäftigung mit dem Thema.
...
Steckt im Daumenkino die
Sehnsucht, bewegte Momente festzuhalten und sie an jedem Ort, an dem
ich mich befinde, wieder entstehen lassen zu können? Steckt
dahinter der tieferliegende Wunsch, die Zeit nicht nur anzuhalten,
sondern sich frei in ihr bewegen zu können, indem man im
Daumenkino als Schöpfer des Geschehens für Sekunden aus dem
Zeitfluss heraustritt, der gewöhnlich alles mit sich fort
reißt?
Gibt das Daumenkino
einen Hinweis darauf, dass Zeit etwas Relatives ist und es
möglicherweise irgendwo einen Ort gibt, wo Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren, so wie alle Einzelphasen
gleichzeitig in einem Daumenkino vorhanden sind? Der englische
Astrophysiker Arthur Eddington sagte einmal: "Die Aufteilung in
Vergangenheit und Zukunft ist mit unseren Vorstellungen von Ursache und
freiem Willen eng verwandt. Innerhalb eines genau festliegenden Schemas
vermag man Vergangenheit und Zukunft ausgeformt vor sich liegen zu
sehen. Ereignisse treten nicht ein, sie existieren
bereits, und wir bewegen uns lediglich auf sie zu."
...
Anfangs, als ich mich in
theoretischer Hinsicht mit dem Medium Daumenkino zu beschäftigen
begann, dachte ich, die Zeitwahrnehmung im Daumenkino sei das zentrale
Thema für mich. Inzwischen habe ich jedoch festgestellt, dass es
nicht nur die Zeit, sondern auch die Leerstellen zwischen den einzelnen
Fotos als Aspekte der Zeitwahrnehmung im Daumenkino
sind, die mich nicht mehr loslassen. Was ist mit Leerstelle gemeint?
Zunächst einmal sind die Leerstellen zwischen den Bildern gemeint,
die Auslassungen im Daumenkino. Da meine Daumenkinos mit nur drei
Bildern pro Sekunde aufgenommen werden, sind diese Leerstellen ungleich
größer, als jene beim Film, der mit 24 bzw. 25 Bildern pro
Sekunde arbeitet. Während beim Film die Leerstellen bei der
Projektion nicht spürbar werden, sind die Leerstellen beim
Daumenkino sinnlich erfahrbar. Man kann zwischen die Bilder greifen und
den (Zeit-)Fluss der Bilder jederzeit und an jeder beliebigen Stelle
unterbrechen. In diesem Sinne sollte man ein Daumenkino als ein offenes Zeitgetriebe bezeichnen, im Gegensatz zum Film,
der demnach ein geschlossenes Zeitgetriebe darstellen
würde.
In den oben
beschriebenen, sinnlich erfahrbaren Leerstellen, befinde ich mich im
Moment der Aufnahme eines Daumenkinos. Jedes Mal, wenn der Spiegel der
Kamera hochklappt, um Licht auf den Film zu lassen, wird das Bild
schwarz. Im Moment der Aufnahme sehe ich also das Daumenkino
der Leerstellen. Eines unterscheidet jedoch die Wahrnehmung im
Moment der Aufnahme eines Daumenkinos von der der späteren
Betrachtung entscheidend: Bei der Aufnahme kann und will ich den
Vorgang nicht stoppen und auch die Geschwindigkeit des Vorgangs ist
für mich nicht beeinflussbar. Der Vorgang des Fotografierens
ist für mich metrisch, im Sinne der mechanischen Wiederholung von
Gleichem (auslösende Kamera) und nicht rhythmisch, wie später
das Betrachten der Daumenkinos (Rhythmus meint in
diesem Fall das lebendige Wiederentstehen von Gleichem mit zeitlichen
Abweichungen). Dieser Gedanke wird uns später zum Thema der Eigenzeit führen,
die sowohl für den Protagonisten als
auch für den Betrachter eines Daumenkinos ein sehr wesentlicher
Aspekt ist.
Ich habe auch
festgestellt, dass man über die Leerstellen des Daumenkinos
nachdenken muss, wenn man über das Wesen der Zeit nachdenkt.
'Zeit' steckt zwar schon als "Gerinnungsform", in jeder Fotografie, aber in einem einzelnen Foto wird sie
immer geronnen bleiben, wohingegen beim Abblättern eines
Daumenkinos aus der geronnenen Zeit der Einzelbilder wieder
reproduzierte und erlebbare Zeit wird. Damit aus der Gerinnungsform von
Zeit jedoch wieder erlebbare Zeit entstehen kann, bedarf es einer
weiteren ‘Zutat’, so wie man gefrorenem Wasser Energie hinzufügen
muss, um es wieder flüssig zu machen.
Wo kommt diese ‘Zutat’
und mit ihr die Zeit im Daumenkino aber her? Wenn ich den Satz, den ich
der Arbeit vorangestellt habe "Das was man sieht, kommt von dem, was
man nicht sieht" auf die Frage übertrage, wo die Zeit herkommt,
dann muss ich zu dem Schluss kommen, dass auch die Zeit daher kommt wo
keine Zeit existiert. Das würde jedoch bedeuten, dass es irgendwo keine Zeit gibt, oder, anders formuliert, dass in der
Zeit selber, genauso wie im Daumenkino, Leerstellen
enthalten sind. Demnach würde Zeit entgegen unserer
gewöhnlichen (makrokosmischen) Wahrnehmung diskontinuierlich
vergehen und käme aus ihren eigenen (zeitlosen) Leerstellen. Diese
Leerstellen stellten demnach die erforderliche „Zutat“ dar, die ein
Vergehen von Zeit und Geschehen überhaupt erst ermöglicht.
...
Im Sommer des Jahres
2001 beteilige ich mich am 'Tag der offenen Ateliers' im Berliner
Bezirk „Prenzlauer Berg“. Zum ersten Mal kommen Menschen zu mir, die
ich nicht kenne, um meine Daumenkinos zu betrachten. Sie kommen in
meine Dunkelkammer, die an diesem Tag eine helle Kammer sein wird,
erleuchtet von einem Leuchttisch, auf dem 15 Daumenkinos liegen.
Es gefällt mir besonders, wie eine junge Frau aus Chile die
Daumenkinos betrachtet. Sie hat viel Zeit mitgebracht an diesem Tag und
die Zeitschleifen, die ich erlebe, wenn sie die Daumenkinos in ihren
Händen hält und blättert, ihr Staunen im Blick, ihre
Ernsthaftigkeit, das leise Knattern der Seiten, ihre Haare, die vom
Wind der Daumenkinos auf ihren Schultern bewegt werden - das alles kann
ich mir durch die ständige Wiederholung des Vorgangs so genau
angucken, als betrachtete ich immer wieder dasselbe Daumenkino an dem
Ort, an dem die Daumenkinos sonst in der Dunkelheit entstehen. Sie sagt, dass sie gerne ein Daumenkino kaufen
würde, aber sie hat das Geld nicht, und so frage ich sie
stattdessen, ob ich ein Daumenkino von ihr machen darf und es ist klar,
dass wir beide auf diese Weise zu einem Daumenkino kommen werden.
Einige Wochen später fahre ich abends zu ihr, sie hat mich in der
Dunkelkammer angerufen und mir gesagt, dass sie nun Zeit hätte.
Das Daumenkino "Frau von Kerze beleuchtet" entsteht.
Wir sitzen uns in ihrem
Zimmer gegenüber und wissen beide nicht, wie ein Daumenkino von
ihr aussehen könnte. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten haben,
greife ich zur Kamera und betrachte die Frau durch den Sucher. Ich
bitte sie, das Licht in ihrem Zimmer auszumachen, weil mich der
beleuchtete Hintergrund im Bild stört. Während ich die Kamera
mit der rechten Hand halte, nehme ich ein Teelicht, welches noch als
einzige Lichtquelle brennt, in die andere Hand und bewege es knapp
unterhalb ihres Gesichtes langsam hin und her, um zu sehen, wie der
Schein des Kerzenlichtes auf ihrem Gesicht wirkt. Die Frau verfolgt die
Kerze mit ihrem Blick und hört dabei auf ihre Musik, die vom
CD-Spieler kommt. Die Person im Sucher scheint unerreichbar für
mich zu sein, versunken in ihre Gedanken oder in die Musik, und doch
sitze ich ihr so nah gegenüber, dass ich sie berühren
könnte. Die Kamera befindet sich in ihrem Körperraum, so wie
sich das Daumenkino später, wenn ich es betrachten werde, in
meinem Körperraum befinden wird.
Mir wird klar, dass das
Daumenkino aus dem Blick bestehen wird, den die Frau der sich
außerhalb des Bildfeldes bewegenden Kerze nachschickt. Jetzt
weiß ich, dass es nur noch darum gehen wird, den richtigen
Zeitpunkt zu wählen, um auszulösen. Wie immer, wenn ich ein
Daumenkino mache, habe ich in diesem Moment plötzlich das
Gefühl auf einer Klippe zu stehen und kurz vor dem Absprung zu
sein. Ich weiß, dass ich mein Gegenüber mit mir reißen
werde, mit mir in die Tiefe der Zeit, ohne jedoch zu wissen, was dann
passieren wird. Ich löse aus.
Von der Kamera geht
dabei immer auch eine Erotik aus. Die Protagonisten sind sich dessen,
was sie tun, sehr gewiss, auch wenn es nicht geplant ist, wenn es aus
den Tiefen des Unbewussten kommt, ihr Handeln Intuition ist, der
Einfall aus dem Moment, aus dem Augenblick: Reines Sein, geboren aus
Bewegung und Rhythmus. Dabei ist ihr Handeln die Wahrheit, die nur
entstehen kann, wenn eine Kamera anwesend ist. So agieren die
Protagonisten stets für die Kamera, deren
Verschluss wie das Maul eines gefräßigen Tieres, das seinen
(Zeit)Hunger stillt, auf und zugeht.
Zugleich ist das
Daumenkinografieren mit einer gewissen Brutalität und Gier
verbunden, denn die Kamera fordert die Protagonisten mit jedem neuen
Auslösen erneut und wirft sie auf sich selbst zurück. (Anders
als in diesem Fall wissen die Protagonisten meistens vorher nicht, dass
ich ein Daumenkino von ihnen machen werde.) Auf diese Weise
entreißt die Kamera ihnen manchmal Dinge, die sehr nah bei ihnen
liegen können. Deshalb ist es mir auch wichtig, eines von den zwei
Exemplaren, die ich grundsätzlich von den Daumenkinos mache, den
Protagonisten zu schenken. So hoffe ich ihnen zumindest einen Teil von
dem zurückgeben zu können, was ich von ihnen bekommen habe,
denn es sind ihre Emotionen, die im Daumenkino festgehalten werden und
nicht meine Erregung, die ich empfinde, wenn ich den Finger nicht mehr
vom Auslöser nehme, bis der ganze Film verschossen ist.
Der Vorgang des
Fotografierens ist für mich, wie bereits gesagt, metrisch und
nicht rhythmisch, wie das Betrachten der Daumenkinos und unser
Herzschlag. Die Kamera zerteilt die Geschehnisse hörbar in
Sequenzen und wechselwirkt so mit dem Geschehen in einem weitaus
höheren Maße, als dies eine Film- oder Videokamera tut, die
fast geräuschlos läuft, bzw. mit so hoher Frequenz, dass
Belichtung und Filmtransport (wie bei der Filmkamera) nicht mehr als
Einzelgeräusch wahrgenommen werden, sondern zu einem
gleichmäßigen und leisen Surren verschmelzen. Meine Kamera
hingegen ist laut und verhältnismäßig langsam, sie
macht klack, klack, klack - klack, klack, klack - klack, klack, klack,
dreimal pro Sekunde und lässt die Geschehnisse aus dem scheinbar
gleichmäßigen Fluss der Zeit in eine bewusst empfundene
Zeitlichkeit heraustreten. Die Fotokamera fungiert in diesem Moment als
ein Metronom mit drei Schlägen pro Sekunde, in dessen Metrum die
Protagonisten ihren Eigenrhythmus finden. Daher
nenne ich meine Kamera im Moment des Daumenkinographierens ein Fotronom; Daumenkinos, die auf diese Weise entstehen, nenne ich fotronomische Daumenkinos.
Im Daumenkino „Frau von
Kerze beleuchtet“ gibt es einen kurzen Moment, in dem die Frau
lächelt. Es ist ein sehr feines Lächeln. Die Frau ist bei
sich und nicht beim Betrachter, denn sie schaut nicht in das Fotronom.
So geht ihr Blick am Schluss ins Leere, aus dem Bild heraus, am
Betrachter vorbei und verliert sich in der Begrenztheit der Struktur
eines Daumenkinos. Kurz vor dem Ende des Daumenkinos
schlägt die Frau die Augen nieder. Dieser Augenblick wird aus dem
"breiten Strom des Wahrgenommenen" herausgelöst und gewinnt eine fast
magische Kraft und
Schönheit. Flüchtige Momente wie dieser, Gesten, Blicke und
Emotionen werden im Daumenkino festgehalten und wiederholbar. Sie
scheinen auf etwas Größeres zu verweisen, welches sich
oftmals hinter den kleinen Dingen verbirgt.
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