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Als ich begann dieses Buch zu schreiben, lagen Jahre hinter mir, in denen ich mich intensiv mit dem fotografischen Daumenkino auseinandersetzte. Zunächst begann ich, meine Freunde zu porträtieren. Doch schon bald entwickelte ich darüber hinaus – ohne mir anfangs dessen bewusst zu sein - eine Art ‚Theorie des Daumenkinographierens‘. Bereits bei meinen ersten Daumenkinos, die ich machte, hatte ich das Gefühl, dass es sowohl bei der Aufnahme als auch beim Betrachten der Daumenkinos in einem besonders hohen Maße zu Wechselwirkungen mit dem Medium kommt. Hinter der kindlichen Freude, Begeisterung und Neugierde beim Betrachten der Daumenkinos, sowie dem Maß, mit dem sich die Menschen in den Daumenkinos offensichtlich selbst begegneten, vermutete ich ein tieferliegendes Prinzip. Diese Vermutung war es, die in mir eine bleibende Faszination für das fotografische Daumenkino auslöste. "Der Mantel der Eigenzeit" ist das Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Thema.

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Steckt im Daumenkino die Sehnsucht, bewegte Momente festzuhalten und sie an jedem Ort, an dem ich mich befinde, wieder entstehen lassen zu können? Steckt dahinter der tieferliegende Wunsch, die Zeit nicht nur anzuhalten, sondern sich frei in ihr bewegen zu können, indem man im Daumenkino als Schöpfer des Geschehens für Sekunden aus dem Zeitfluss heraustritt, der gewöhnlich alles mit sich fort reißt?

Gibt das Daumenkino einen Hinweis darauf, dass Zeit etwas Relatives ist und es möglicherweise irgendwo einen Ort gibt, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren, so wie alle Einzelphasen gleichzeitig in einem Daumenkino vorhanden sind? Der englische Astrophysiker Arthur Eddington sagte einmal: "Die Aufteilung in Vergangenheit und Zukunft ist mit unseren Vorstellungen von Ursache und freiem Willen eng verwandt. Innerhalb eines genau festliegenden Schemas vermag man Vergangenheit und Zukunft ausgeformt vor sich liegen zu sehen. Ereignisse treten nicht ein, sie existieren bereits, und wir bewegen uns lediglich auf sie zu."[1]


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Anfangs, als ich mich in theoretischer Hinsicht mit dem Medium Daumenkino zu beschäftigen begann, dachte ich, die Zeitwahrnehmung im Daumenkino sei das zentrale Thema für mich. Inzwischen habe ich jedoch festgestellt, dass es nicht nur die Zeit, sondern auch die Leerstellen zwischen den einzelnen Fotos als Aspekte der Zeitwahrnehmung im Daumenkino sind, die mich nicht mehr loslassen. Was ist mit Leerstelle gemeint? Zunächst einmal sind die Leerstellen zwischen den Bildern gemeint, die Auslassungen im Daumenkino. Da meine Daumenkinos mit nur drei Bildern pro Sekunde aufgenommen werden, sind diese Leerstellen ungleich größer, als jene beim Film, der mit 24 bzw. 25 Bildern pro Sekunde arbeitet. Während beim Film die Leerstellen bei der Projektion nicht spürbar werden, sind die Leerstellen beim Daumenkino sinnlich erfahrbar. Man kann zwischen die Bilder greifen und den (Zeit-)Fluss der Bilder jederzeit und an jeder beliebigen Stelle unterbrechen. In diesem Sinne sollte man ein Daumenkino als ein offenes Zeitgetriebe bezeichnen, im Gegensatz zum Film, der demnach ein geschlossenes Zeitgetriebe darstellen würde.

 

In den oben beschriebenen, sinnlich erfahrbaren Leerstellen, befinde ich mich im Moment der Aufnahme eines Daumenkinos. Jedes Mal, wenn der Spiegel der Kamera hochklappt, um Licht auf den Film zu lassen, wird das Bild schwarz. Im Moment der Aufnahme sehe ich also das Daumenkino der Leerstellen. Eines unterscheidet jedoch die Wahrnehmung im Moment der Aufnahme eines Daumenkinos von der der späteren Betrachtung entscheidend: Bei der Aufnahme kann und will ich den Vorgang nicht stoppen und auch die Geschwindigkeit des Vorgangs ist für mich nicht beeinflussbar. Der Vorgang des Fotografierens ist für mich metrisch, im Sinne der mechanischen Wiederholung von Gleichem (auslösende Kamera) und nicht rhythmisch, wie später das Betrachten der Daumenkinos (Rhythmus meint in diesem Fall das lebendige Wiederentstehen von Gleichem mit zeitlichen Abweichungen). Dieser Gedanke wird uns später zum Thema der Eigenzeit[2] führen, die sowohl für den Protagonisten als auch für den Betrachter eines Daumenkinos ein sehr wesentlicher Aspekt ist.

 

Ich habe auch festgestellt, dass man über die Leerstellen des Daumenkinos nachdenken muss, wenn man über das Wesen der Zeit nachdenkt. 'Zeit' steckt zwar schon als "Gerinnungsform"[3], in jeder Fotografie, aber in einem einzelnen Foto wird sie immer geronnen bleiben, wohingegen beim Abblättern eines Daumenkinos aus der geronnenen Zeit der Einzelbilder wieder reproduzierte und erlebbare Zeit wird. Damit aus der Gerinnungsform von Zeit jedoch wieder erlebbare Zeit entstehen kann, bedarf es einer weiteren ‘Zutat’, so wie man gefrorenem Wasser Energie hinzufügen muss, um es wieder flüssig zu machen.

 

Wo kommt diese ‘Zutat’ und mit ihr die Zeit im Daumenkino aber her? Wenn ich den Satz, den ich der Arbeit vorangestellt habe "Das was man sieht, kommt von dem, was man nicht sieht" auf die Frage übertrage, wo die Zeit herkommt, dann muss ich zu dem Schluss kommen, dass auch die Zeit daher kommt wo keine Zeit existiert. Das würde jedoch bedeuten, dass es irgendwo keine Zeit gibt, oder, anders formuliert, dass in der Zeit selber, genauso wie im Daumenkino, Leerstellen enthalten sind. Demnach würde Zeit entgegen unserer gewöhnlichen (makrokosmischen) Wahrnehmung diskontinuierlich vergehen und käme aus ihren eigenen (zeitlosen) Leerstellen. Diese Leerstellen stellten demnach die erforderliche „Zutat“ dar, die ein Vergehen von Zeit und Geschehen überhaupt erst ermöglicht.

 

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Im Sommer des Jahres 2001 beteilige ich mich am 'Tag der offenen Ateliers' im Berliner Bezirk „Prenzlauer Berg“. Zum ersten Mal kommen Menschen zu mir, die ich nicht kenne, um meine Daumenkinos zu betrachten. Sie kommen in meine Dunkelkammer, die an diesem Tag eine helle Kammer sein wird, erleuchtet von einem Leuchttisch, auf dem 15 Daumenkinos liegen.
Es gefällt mir besonders, wie eine junge Frau aus Chile die Daumenkinos betrachtet. Sie hat viel Zeit mitgebracht an diesem Tag und die Zeitschleifen, die ich erlebe, wenn sie die Daumenkinos in ihren Händen hält und blättert, ihr Staunen im Blick, ihre Ernsthaftigkeit, das leise Knattern der Seiten, ihre Haare, die vom Wind der Daumenkinos auf ihren Schultern bewegt werden - das alles kann ich mir durch die ständige Wiederholung des Vorgangs so genau angucken, als betrachtete ich immer wieder dasselbe Daumenkino an dem Ort, an dem die Daumenkinos sonst in der Dunkelheit entstehen.
Sie sagt, dass sie gerne ein Daumenkino kaufen würde, aber sie hat das Geld nicht, und so frage ich sie stattdessen, ob ich ein Daumenkino von ihr machen darf und es ist klar, dass wir beide auf diese Weise zu einem Daumenkino kommen werden. Einige Wochen später fahre ich abends zu ihr, sie hat mich in der Dunkelkammer angerufen und mir gesagt, dass sie nun Zeit hätte. Das Daumenkino "Frau von Kerze beleuchtet" entsteht.

 

Wir sitzen uns in ihrem Zimmer gegenüber und wissen beide nicht, wie ein Daumenkino von ihr aussehen könnte. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten haben, greife ich zur Kamera und betrachte die Frau durch den Sucher. Ich bitte sie, das Licht in ihrem Zimmer auszumachen, weil mich der beleuchtete Hintergrund im Bild stört. Während ich die Kamera mit der rechten Hand halte, nehme ich ein Teelicht, welches noch als einzige Lichtquelle brennt, in die andere Hand und bewege es knapp unterhalb ihres Gesichtes langsam hin und her, um zu sehen, wie der Schein des Kerzenlichtes auf ihrem Gesicht wirkt. Die Frau verfolgt die Kerze mit ihrem Blick und hört dabei auf ihre Musik, die vom CD-Spieler kommt. Die Person im Sucher scheint unerreichbar für mich zu sein, versunken in ihre Gedanken oder in die Musik, und doch sitze ich ihr so nah gegenüber, dass ich sie berühren könnte. Die Kamera befindet sich in ihrem Körperraum, so wie sich das Daumenkino später, wenn ich es betrachten werde, in meinem Körperraum befinden wird.


Mir wird klar, dass das Daumenkino aus dem Blick bestehen wird, den die Frau der sich außerhalb des Bildfeldes bewegenden Kerze nachschickt. Jetzt weiß ich, dass es nur noch darum gehen wird, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, um auszulösen. Wie immer, wenn ich ein Daumenkino mache, habe ich in diesem Moment plötzlich das Gefühl auf einer Klippe zu stehen und kurz vor dem Absprung zu sein. Ich weiß, dass ich mein Gegenüber mit mir reißen werde, mit mir in die Tiefe der Zeit, ohne jedoch zu wissen, was dann passieren wird. Ich löse aus.
 

Von der Kamera geht dabei immer auch eine Erotik aus. Die Protagonisten sind sich dessen, was sie tun, sehr gewiss, auch wenn es nicht geplant ist, wenn es aus den Tiefen des Unbewussten kommt, ihr Handeln Intuition ist, der Einfall aus dem Moment, aus dem Augenblick: Reines Sein, geboren aus Bewegung und Rhythmus. Dabei ist ihr Handeln die Wahrheit, die nur entstehen kann, wenn eine Kamera anwesend ist. So agieren die Protagonisten stets für die Kamera, deren Verschluss wie das Maul eines gefräßigen Tieres, das seinen (Zeit)Hunger stillt, auf und zugeht.


Zugleich ist das Daumenkinografieren mit einer gewissen Brutalität und Gier verbunden, denn die Kamera fordert die Protagonisten mit jedem neuen Auslösen erneut und wirft sie auf sich selbst zurück. (Anders als in diesem Fall wissen die Protagonisten meistens vorher nicht, dass ich ein Daumenkino von ihnen machen werde.) Auf diese Weise entreißt die Kamera ihnen manchmal Dinge, die sehr nah bei ihnen liegen können. Deshalb ist es mir auch wichtig, eines von den zwei Exemplaren, die ich grundsätzlich von den Daumenkinos mache, den Protagonisten zu schenken. So hoffe ich ihnen zumindest einen Teil von dem zurückgeben zu können, was ich von ihnen bekommen habe, denn es sind ihre Emotionen, die im Daumenkino festgehalten werden und nicht meine Erregung, die ich empfinde, wenn ich den Finger nicht mehr vom Auslöser nehme, bis der ganze Film verschossen ist.


Der Vorgang des Fotografierens ist für mich, wie bereits gesagt, metrisch und nicht rhythmisch, wie das Betrachten der Daumenkinos und unser Herzschlag. Die Kamera zerteilt die Geschehnisse hörbar in Sequenzen und wechselwirkt so mit dem Geschehen in einem weitaus höheren Maße, als dies eine Film- oder Videokamera tut, die fast geräuschlos läuft, bzw. mit so hoher Frequenz, dass Belichtung und Filmtransport (wie bei der Filmkamera) nicht mehr als Einzelgeräusch wahrgenommen werden, sondern zu einem gleichmäßigen und leisen Surren verschmelzen. Meine Kamera hingegen ist laut und verhältnismäßig langsam, sie macht klack, klack, klack - klack, klack, klack - klack, klack, klack, dreimal pro Sekunde und lässt die Geschehnisse aus dem scheinbar gleichmäßigen Fluss der Zeit in eine bewusst empfundene Zeitlichkeit heraustreten. Die Fotokamera fungiert in diesem Moment als ein Metronom mit drei Schlägen pro Sekunde, in dessen Metrum die Protagonisten ihren Eigenrhythmus[4] finden. Daher nenne ich meine Kamera im Moment des Daumenkinographierens ein Fotronom[5]; Daumenkinos, die auf diese Weise entstehen, nenne ich fotronomische Daumenkinos.

 

Im Daumenkino „Frau von Kerze beleuchtet“ gibt es einen kurzen Moment, in dem die Frau lächelt. Es ist ein sehr feines Lächeln. Die Frau ist bei sich und nicht beim Betrachter, denn sie schaut nicht in das Fotronom. So geht ihr Blick am Schluss ins Leere, aus dem Bild heraus, am Betrachter vorbei und verliert sich in der Begrenztheit der Struktur eines Daumenkinos. Kurz vor dem Ende des Daumenkinos schlägt die Frau die Augen nieder. Dieser Augenblick wird aus dem "breiten Strom des Wahrgenommenen"[6] herausgelöst und gewinnt eine fast magische Kraft und Schönheit. Flüchtige Momente wie dieser, Gesten, Blicke und Emotionen werden im Daumenkino festgehalten und wiederholbar. Sie scheinen auf etwas Größeres zu verweisen, welches sich oftmals hinter den kleinen Dingen verbirgt.

 



[1] Mecklenburg 1991: 28

[2] Der Begriff der Eigenzeit kommt ursprünglich aus der Relativitätstheorie und besagt, dass jedes Lebewesen nach seinem eigenen Zeitmaß lebt, da Zeit nicht ¢absolut¢ sondern ¢relativ¢ ist. (vgl. auch Kapitel ¢Einsteins Mantel und die Eigenzeit¢)

[3] Burckhardt 1994: 251

[4] Eigenrhythmus ist hier definiert als die intuitive, sinnliche Gliederung der Zeit durch Gesten, Blicke, Bewegungen u.ä.

[5] Der Begriff Fotronom ist ein Kunstwort und setzt sich zusammen aus dem Wort Foto (grch. Photo = Licht) und dem Wort Metronom.

[6] Benjamin 1977: 160


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